Neuigkeiten aus der kantonalen Fachstelle Bildung

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Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – jede von da, wo sie ist natürlich auch
Eine Lektüre-Empfehlung aus der Fachstelle Bildung

Es gibt Jugendbücher, die liest man auch im Erwachsenenalter mit Gewinn. Vor allem wenn es sich um ein so kluges Buch handelt, wie es der deutsche, islamische Intellektuelle Navid Kermani jüngst geschrieben hat. Es geht Kermani in seinem ersten Buch für Jugendliche um nicht weniger als um die Frage nach Gott.

Weil er dies seinem sterbenden Vater versprochen hat, macht ein Schriftsteller-Vater sich daran, der eigenen Tochter den Islam zu erklären. Tagsüber schreibt er an einem Buch, dessen Inhalte er Abend für Abend mit der Tochter diskutiert und am nächsten Tag oft aus einem verändertem Blickwinkel weiterentwickelt; so entsteht ein Buch nicht nur über den Islam, sondern über das, was alle Religionen eint, ein Buch von Gott und dem Tod, von der Schöpfung und der Stellung der Menschen in ihr, von der Liebe und der Unendlichkeit. Im Zentrum der intellektuellen Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter steht zwar der Islam, aber Kermani schöpft dank seinem grossen Wissen und seinem Leben in zwei Kulturen aus einem so reichen Traditionsschatz, dass ihm ein Buch über die Gottesvorstellungen aller drei monotheistischen Religion gelingt. Und obwohl der Erzähler nie die Perspektive des bekennenden Muslims verlässt und seine Ausführungen ausschliesslich mit Zitaten aus dem Koran belegt, verschliesst er den Blick weder vor den problematischen Seiten eines gewalttätigen Islams, wie er heute in vielen autoritären Staaten vertreten wird, noch verfolgt er je missionarische Absichten.

Oder wie es im Text heisst: «Das Buch, das Opa sich gewünscht hat, ist kein Wettbewerb, bei dem am Ende der Islam auf Platz eins landen soll. Solche Bücher gibt es genügend, und Sieger ist zufällig immer die eigene Religion» (S. 102) Auf Platz eins steht vielmehr die religiöse Vielfalt, eine Sichtweise, die den Reichtum der Welt gerade in den Unterschieden sieht und vor allem immer wieder darauf verweist, wie nahe sich die monotheistischen Religionen sind: «Der Koran nimmt so viele Motive, Geschichten, Lehren aus der Bibel auf, dass der Islam zu den biblischen Religionen gehört.

Deshalb würdest du auch beinahe alles, was ich dir Abend für Abend vortrage, von den Zeichen Gottes in der Natur über die Vieldeutigkeit der Schrift und die Spannung zwischen den Schriftgelehrten und den Mystikern bis hin zur Weltfrömmigkeit, die unter allen Glaubensformen liegt, auf die eine oder andere Weise im Judentum und Christentum finden.» (S.108) Und weil sich der Erzähler sehr offen den kritischen Gedanken einer in der modernen westlichen Welt sozialisierten Jugendlichen stellt, werden auch die schwierigen Fragen wie zum Beispiel die Frage nach dem Ursprung des Bösen und die Theodizee-Problematik nicht ausgespart.

Navid Kermani ist mit seinem ersten Jugendbuch ein ausgesprochen interreligiöses Werk gelungen, welches überzeugend für eine im Glauben verankerte Weltsicht eintritt: «Glaube ist keine Haltung, keine Überzeugung, es ist eine Reaktion: Dankbarkeit». (S.190)

Franziska Grau Salvisberg
Fachstelle Bildung

Literaturnachweis: Navid Kermani; Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott. Hanser Verlag 2022

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