Eine wunderbare Entdeckungsreise

Bild wird geladen...
Ich gehöre zu der grossen Gruppe von Menschen, die in diesem Sommer teilweise freiwillig, teilweise notgedrungen, keine Ferienreise ins Ausland gemacht haben.
Ich gebe es gerne zu, auch ohne Covid-19 sind Abenteuertrips in weit entfernte, exotische Länder nicht unbedingt mein Ding. Ich schätze eine perfekt funktionierende Infrastruktur und weiss gerne, dass ich mich im Notfall auf ein ausgebautes Gesundheitssystem verlassen kann. Entsprechend klein ist mein Wissen über den Alltag und die gelebte Religiosität von Menschen ausserhalb Europas.
Eine glückliche Fügung – man könnte auch von einer Frucht meiner Stellvertretung im Ressort Mission und Hilfswerke meines Kollegen Martin Burkhard sprechen – hat mich unmittelbar vor den Sommerferien in den Besitz eines neu erschienenen Buches gebracht. Es handelt sich um den Titel «Wie andere Kulturen die Bibel sehen. Ein Praxisbuch mit 70 Kunstwerken aus 33 Ländern. Mission 21 / Theologischer Verlag Zürich 2020». Das Buch widmet sich ausgesprochen material- und detailreich der Frage, wie biblische Texte anderswo auf der Welt verstanden werden. Der Autor Christian Weber bietet in seiner Einführung 6 verschiedene Zugänge an. Allen liegt ein kontextbezogenes Verständnis der Bibel zugrunde, das heisst, der Grundgedanke, dass jeder und jede von uns die Bibel mit seiner oder ihrer ganz eigenen Brille liest. Unsere Perspektive wird dabei davon bestimmt, wo und wie wir leben.

Besonders faszinierend ist der 6. Zugang, der 70 Kunstwerken von überall auf der Welt zu 10 verschiedenen biblischen Geschichten präsentiert. Christian Weber bemerkt dazu: «Bibeltexte rufen ganz unterschiedliche und manchmal unerwartete Bilder wach. Kunstwerke aus der ganzen Welt zum gleichen biblischen Text sind wie interkulturelle Gesprächspartner. Sie sind weitaus mehr als nur Illustrationen eines Textes: eigenständige kontextuelle Interpretationen.» (S. 112)
Es lohnt sich, das vorgeschlagene interkulturelle Gespräch zu führen. Über das Kunstwerk erschliesst sich mir eine neue Perspektive; oder anders ausgedrückt, die Möglichkeit, einen Bibeltext für einmal ganz anders zu deuten, - nämlich durch die Brille des fremden Künstlers, der fremden Künstlerin.
Nehmen wir zum Beispiel die bekannte Geschichte der Fusswaschung aus dem Johannes-Evangelium (Joh 13,1-20): Ich habe diesen Text bis jetzt ausschliesslich von seinem Ende her gelesen. Für mich stand die Belehrung der Jünger im Vordergrund, und ich habe Jesus als guten Didaktiker und geschickten Erlebnispädagogen bewundert. Damit habe ich die Bibelstelle ziemlich genau so verstanden, wie sie uns in der europäischer Kulturtradition zum Beispiel aus dem berühmten Fresko von Giotto di Bondone entgegentritt (» Abbildung 1): Während Jesus Petrus die Füsse wäscht, erklärt er auch gleich, was diese Geste bedeutet. Seine erhobene rechte Hand macht dies deutlich.

Ganz anders stellt der afrikanische Künstler Kamba Luësa André die gleiche biblische Szene dar (» Abbildung 2):

Auf den ersten Blick findet das Auge kaum Halt im Gewirr der weissen Linien und Muster. Nach und nach lassen sich aber die Jünger im Hintergrund, Petrus und Jesus im Vordergrund ausmachen. «Zwei runde Flächen sind die Ruhepunkte des Gemäldes, die Wasserschale und vor allem der leuchtend-warme Heiligenschein Jesu in der Mitte. […]. Sie [die Wasserschale] hat die gleiche Form und Grösse wie der Heiligenschein – als ob Jesus den Heiligenschein Petrus zu Füssen gelegt hätte, als ob er Petrus bittet, hineinzusteigen, als ob er seinen Jünger Anteil an seiner Heiligkeit geben will.» (S. 213)
Nicht die Interpretation der Handlung, sondern die Handlung selbst, bringt der Künstler zum Ausdruck. Hier wird die Fusswaschung nicht gedeutet, sondern gefeiert; als Betrachterin des Kunstwerks bin ich dazu eingeladen, ihr aus meiner eigenen Sicht Bedeutung zu verleihen. Nicht zuletzt bin ich auch dazu aufgefordert, die Bibel zur Hand zu nehmen, den Text neu zu lesen und meinen geistigen Horizont zu erweitern. - Keine schlechte Idee, gerade in Zeiten, in denen sich unser «physischer Horizont» unangenehm eingeschränkt hat.

Franziska Grau Salvisberg
Synodalrätin ERKF
Ressort Bildung & Jugend

Newsletter - Inhaltsverzeichnis